Shame – Filmkritik
Scham und Glanz. Regisseur Steve McQueen und Darsteller Michael Fassbender liefern erneut ein existenzielles Drama. (Deadline – das Filmmagazin)

Shame heißt der neue Spielfilm des britischen Künstlers Steve McQueen, der mit Hunger (2008) einen der intensivsten Filme der letzten Jahre gedreht hat. Wie in seinem Debüt arbeitet McQueen erneut mit dem deutsch-irischen Michael Fassbender zusammen, der im letzten Jahr mit so unterschiedlichen Auftritten, etwa als Magneto in X-Men: First Class oder Carl Gustav Jung in Cronenbergs Eine Dunkle Begierde (A Dangerous Method) seinen internationalen Durchbruch schaffte.
Shame (2011) ist keineswegs weniger explizit als sein Vorgänger. Er ist Hunger auf körperlicher wie psychischer Ebene zweifelsohne gleichgestellt, wenn auch mit einer gänzlich anderen Thematik verbunden. Der New Yorker Geschäftsmann Brandon (Fassbender) ist süchtig nach Sex – Sex in all seinen Variationen, Hauptsache er bekommt seinen permanenten Kick. Er lebt allein in seinem schicken, sterilen Apartment und schottet sich bewusst von einem größeren sozialen Umfeld und ernst gemeinten Beziehungen ab. Ein Einzelgänger auf der Suche nach sich selbst.
Während seine sexuellen Eskapaden weiter ihren Lauf nehmen, platzt auf einmal seine Schwester Sissy (Carey Mulligan) in sein Leben. Unangemeldet und hilfsbedürftig steht sie in Brandons Badezimmer. Nackt, entblößt – und im Hintergrund läuft „I want your love“ von Chic in der Vinyl-Version. Die anrührende Disco-Ballade spiegelt ihren Wunsch nach wirklicher Liebe, der Liebe einer Schwester zu ihrem Bruder. Doch Brandon ist schon zu tief in seiner künstlichen Sex-Welt gefangen, als dass er ihren Hilferuf wahrnehmen könnte.
McQueen findet mit dem „wahren“ Gesicht von New York die örtliche Entsprechung für die zerrissene Seele seines Protagonisten. Die verwahrlosten, dunklen Straßen bei Nacht, in denen Brandon scheinbar um sein Leben läuft. Die grauen, nebligen Hafenbuchten, zu denen er sich in Momenten absoluter Verzweiflung zurückzieht; er möchte vielleicht gerne auf die andere Seite gelangen, kann aber den selbst errichteten Mauern aus Einsamkeit und Isolation nicht entkommen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass die Academy McQueens Kunstwerk (man muss es so bezeichnen) in keiner Weise – nicht einmal für den Hauptdarsteller – für den Oscar nominiert hat. Zu ehrlich, zu direkt, zu explizit. Der Jury war es zu viel. Dann lieber doch das NC-17-Rating für „pornografische Inhalte“. It’s a shame!
Der Titel des Films spielt auf die Scham an, die viele der von McQueen im Vorfeld interviewten Männer nach dem Sex empfunden hätten. „[...] um dieses Gefühl loszuwerden, machen sie [die Männer] einfach weiter. Es ist wie ein Sog, von dem sie sich nicht befreien können.“, so McQueen. Dieser Sog des individuellen und allgemeinen Verfalls wird im Film durch exakt durchkomponierte Aufnahmen visualisiert. Der Einstellung der überfüllten, anonymen U-Bahn-Station folgt die Ansicht des sich abschottenden Individuums. Im sterilen Hotelzimmer, das keine aufrichtige Liebe zulässt, wird die charmante Kollegin von Brandon wenig später durch die käufliche, gefühllose Hure ersetzt.
Interessant im Rahmen der öffentlichen Vorpremiere mit „richtigem“ Publikum waren freilich auch die Reaktionen: ein Pärchen verlässt frühzeitig den Saal, hinter uns ruft jemand: „So ein Quatsch!“ Der Filmemacher ist ein Künstler, dem die breite Anerkennung, geschweige denn Auszeichnungen nicht das Wichtigste sind. Er verfolgt einen inszenatorischen Weg, der den Zuschauer über den Schluss hinaus in den Bann zieht. Man kann diesen Film nicht vergessen.
Berührend und intensiv – ein Meisterwerk
Erschienen in der Online-Rubrik „Breitwand“, Deadline – das Filmmagazin, Februar 2012