Die Wildnis ruft – Mediabook
Clarence Browns preisgekrönte Adaption des Klassikers „The Yearling“ erscheint restauriert im Mediabook. Mit meinem ausführlichen Begleittext. (PLAION Pictures)

„Wir schreiben das Jahr 1878, am George-See in Florida, an einem Vorfrühlingstag im April.“
Mitten in der Buschlandschaft Floridas, wo es vor Leben nur so wimmelt, wächst der junge Jody Baxter (Claude Jarman Jr.) im späten 19. Jahrhundert auf. Durch seine liebevollen Eltern und die sprießende Natur um ihn herum entdeckt der kleine Junge die Welt. Dabei lernt er wichtige Lektionen über das Leben von Flag, dem verwaisten Rehkitz, das Jody hingebungsvoll auf Schritt und Tritt begleitet. Ein Leben im Einklang mit der Natur: Die Wildnis ruft ist einer der beeindruckendsten Familienfilme, die das amerikanische Kino je hervorgebracht hat. Die lebensnahe Familiengeschichte mit Hollywood-Star Gregory Peck wurde für ganze sieben Oscars nominiert und mit zwei der begehrten Trophäen ausgezeichnet, darunter für die prächtige Farbfilm-Kameraarbeit. Zudem erhielt Claude Jarman Jr. den Juvenile Award als „herausragender Kinderdarsteller im Jahr 1946“.
Die bewegende Adaption von Marjorie Kinnan Rawlings’ mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetem Roman „The Yearling“ (dt. Frühling des Lebens, 1938) erzählt vom Erwachsen. Dazu gehört auch die Erkenntnis, das nicht alles, was man kennt und liebt, überdauern kann. Die Geschichte um Säen und Ernten und die Gesetze der Natur bleibt zeitlos.
Im 32-seitigen Booklet gehe ich ausführlich auf die Themen und Motive des Klassikers ein, berücksichtige dessen Hintergründe und Entstehungsgeschichte. Im Folgenden ein exklusiver Auszug:
Die Kamera schwenkt sanft über ein Stück unberührtes Land. Vegetation und Wasserader in harmonischem Verhältnis, ein Vogel gleitet durchs Bild. Die Lichtstimmung lässt den Anblick der südlichen Marschlandschaft wie ein Gemälde erscheinen. Die Erzählerstimme, die von Vater Baxter, genannt „Pa“ (Gregory Peck), führt uns parallel zu betörenden Kamerafahrten immer weiter den Fluss hinunter, tief hinein ins dichte Buschwerk, bei der „selbst die Bäume nach Luft ringen“. Die Ruhe hat er hier gesucht nach dem Krieg und all der Hektik der Zivilisation in den Städten. Auch die Einsamkeit. Er hat sich mit seiner Familie ein Nest geschaffen, eine Insel inmitten der Wildnis, um ein neues Leben zu beginnen.
Sein Sohn Jody (Claude Jarman Jr.) zehrt als einziger von diesen faszinierenden Eindrücken. Später werden kleine Grabsteine hinterm Haus der Baxters bezeugen, dass er als einziges Kind überleben, ja überhaupt auf die Welt kommen durfte. Im Baby- und Kindersterben des 19. Jahrhunderts, bedingt durch Krankheiten und Hunger, hat Jody es „geschafft“, wie er selbst einmal fröhlich verkündet. Ein prächtiger Spross, der mit seinen elf Jahren genau zwischen der Träumerei und der harten Realität des Lebens steht. Die Kamera schwenkt über den Farmboden der Baxters, über die ersten Triebe aus frisch beackerter Erde. Dazu hören wir im Hintergrund deutlich die Stimme der Mutter (Jane Wyman), die nach dem Sohn ruft: „Joooody!“ Der Kameraschwenk verbindet beide Themen: die tägliche Arbeit und die kindliche Flucht ins Unbeschwerte. Am Anfang obsiegt das Träumen, die Faszination, in der Wildnis immer wieder neue Wunder zu entdecken. Wir sehen Jody an einem idyllischen Plätzchen am Wasser, sein selbstgebautes Schaufelrad dreht sich im glitzernden Nass. Sein Blick ist friedlich und verträumt. Dann der Zauber der Natur: Rehe, die ganz nah ans Wasser zum Trinken kommen, ein flinkes Eichhörnchen, dass sich verspielt in Richtung Baumkrone windet, eine Waschbärenfamilie mit neuen Jungen. Jodys Augen glänzen.
Die Wildnis ruft (The Yearling, 1946) ist Western und Kinder-/Familienfilm zugleich. Der Fokus liegt auf den Hauptfiguren der Familie, Pa, Ma und Jody, und wie sie in ihrem Habitat (Über-)Leben. Die Topografie ist markiert vom Süden der Vereinigten Staaten, Florida, mit seinen üppigen, grünen Sumpf- und Marschlandschaften. Florida, der Sonnenscheinstaat. Aber auch hier bei den Baxters gilt der Überlebenskampf, das Gesetz der Frontier, nur eben nach Süden verschoben statt gen Westen.
(c) Stefan Jung
